Wien hat sein WM-Gold – auf Schienen. Am 13. September wurde der Ring vor dem Rathaus zur Bühne für Präzisionskunst im Fahrstand: 25 Teams von sechs Kontinenten kämpften um den Titel bei der ersten Tram-Weltmeisterschaft. Am Ende jubelte das rot-weiß-rote Duo: Florijan Isaku (35) und Elisabeth Urbanitsch (48) holten den Sieg für Österreich. Silber ging an Poznań, Bronze an Oslo. Statt Pokalregen und Prämien stand etwas anderes im Fokus: Können, Ruhe und Routine – sichtbar gemacht mitten im Herzen der Stadt.
Von der Dienstschicht aufs Podium
Die beiden Wiener setzten sich im Vorfeld intern gegen mehr als 100 Kolleginnen und Kollegen durch. Isaku fährt seit über einem Jahrzehnt für die Wiener Linien, Urbanitsch seit 2019. Ihr gemeinsamer Antrieb: Sie wollten zeigen, was es heißt, täglich tausende Fahrgäste sicher durch die Stadt zu bringen. „Wir vertreten nicht nur die Wiener Linien, sondern ganz Österreich“, sagte Isaku – hörbar stolz. Urbanitsch gab die Marschrichtung aus: Teilnahme zählt, aber gewinnen ist besser.
Gefahren wurde mit zwei Fahrzeugtypen, die viele Wienerinnen und Wiener aus dem Alltag kennen: dem klassischen ULF und dem modernen Flexity. Urbanitsch fühlt sich im ULF zuhause – damit hat sie begonnen. Isaku bleibt diplomatisch: Jeder Zug hat seinen eigenen Charakter. Technisch sind die Unterschiede beherrschbar, aber im Wettkampf zählt, wie schnell man sein Gefühl für Bremspunkt, Ansprechverhalten und Sicht auf den Millimeter abrufen kann.
Die Disziplinen hatten es in sich – keine Show, sondern Übungen, die Präzision, Timing und Nervenstärke testen. Wer täglich bei Regen, dichtem Verkehr und engem Fahrplan unterwegs ist, weiß, warum diese Aufgaben ernst genommen werden:
- Zielbremsen: exakt an einer Markierung zum Stillstand kommen – ohne Ruck, ohne Überschießen.
- Tempo mit abgedecktem Tacho: Geschwindigkeit nur nach Fahrgefühl halten – wie gut kennt man die Trägheit des Zugs?
- „Billard“: eine große Kugel mit definierter Kraft bewegen, damit sie ein Ziel trifft – fein dosierte Kraftübertragung über Puffer und Kupplung.
- „Bowling“: Hindernisse präzise anvisieren und mit minimaler Korrektur räumen – Lenken und Linienwahl im Schneckentempo.
Für die internationale Konkurrenz – etwa aus Melbourne, San Diego, Hongkong oder Casablanca – gab es vorab Trainingstage. Sinnvoll, denn jede Stadt hat andere Fahrzeuge, andere Bremscharakteristik, andere Anzeige- und Bedienkonzepte. Der Wechsel vom heimischen Cockpit auf Wiener ULF und Flexity braucht Gewöhnung, damit im Wettkampf nicht die Muskulatur, sondern die Automatik im Kopf arbeitet.

Ein Fest der Präzision – mitten in der Stadt
Der Rathausplatz als Austragungsort war mehr als Kulisse. Die Ringtangente wurde gesperrt, die Strecke mit Absperrungen gesichert, Streckenposten, Technik und Moderation koordinierten im Minutentakt. Wo sonst Busse, Räder und Taxis kreuzen, sah man millimetergenaue Bremsungen, ruhige Hände am Fahrhebel und Teams, die im Pair-Format Aufgaben lösten. Das Publikum stand dicht an dicht und hielt mit – bei jeder Vollbremsung, die kaum spürbar endete, und jeder Kugel, die exakt ihr Ziel fand.
Urbanitsch brachte den Geist der Veranstaltung auf den Punkt: „Mitmachen ist schön – aber wir wollten die Konkurrenz wegräumen.“ Isaku ergänzte: „Wir geben alles – auch für die Kolleginnen und Kollegen im Fahrdienst.“ Beide wussten: Es geht hier um Ehre, nicht um Preisgeld. Der Titel ist Anerkennung für einen Beruf, der oft erst auffällt, wenn es irgendwo klemmt.
Der Reiz des Wettbewerbs liegt in der Übersetzung des Alltags ins Messbare. Zielbremsen steht für Fahrgastkomfort: Wer weich am Bahnsteig steht, verhindert Stöße und Stürze. Tempo nach Gefühl zu halten schärft den Blick für Abstände, Geräusche, Schwingungen – wichtig, wenn Anzeigen ausfallen oder die Sicht eingeschränkt ist. „Billard“ und „Bowling“ wirken verspielt, trainieren aber genau das, was in engen Kurven, bei Baustellen oder bei Rangierfahrten zählt: Winkel, Kräfte, Millimeterarbeit.
Die Mischung aus klassischem ULF und Flexity machte den Wettbewerb aus. Der ULF, der viele Wiener Linien prägt, verlangt Gefühl beim Anfahren und Anhalten, die tiefe Bauweise ist eine Besonderheit. Der Flexity wiederum reagiert modern, direkt und effizient. Wer beides beherrscht, beweist, dass er sein Handwerk nicht nur auswendig gelernt hat, sondern versteht. Genau das zeigten Isaku und Urbanitsch, als es darauf ankam.
Auch organisatorisch war die Premiere ein Stress- und Belastungstest: Fahrzeuge mussten zeitgenau bereitstehen, Sicherheitszonen durften nicht unterlaufen werden, und zwischen den Disziplinen gab es technische Checks. Gleichzeitig sollte das Event zugänglich bleiben – verständliche Moderation, klare Sicht für das Publikum, keine Showeffekte, die die Sicherheit beeinträchtigen. Diese Balance gelang, und das tat der Atmosphäre gut.
International war das Feld breit und bunt: Metropolen mit dichtem Netz trafen auf jüngere Systeme aus Übersee. Für viele Teams war Wien mehr als Bühne – es war eine Schule. Man schaut sich ab, wie andere schalten, bremsen, die Spiegel nutzen, die Geräusche deuten. Und man merkt schnell: Gute Fahrweise sieht überall ähnlich aus, egal ob an der Donau, am Pazifik oder am Mittelmeer.
Am Ende stand der Sieg – und der ließ sich sehen. Österreich vor Poznań und Oslo: ein Podium, das den Anspruch des Wettbewerbs zeigt. Nicht die großen Namen oder die teuersten Fahrzeuge gewinnen, sondern das Zusammenspiel aus Gefühl, Übung und Ruhe. Für Wien war es ein perfektes Bild: Öffentlicher Verkehr als Teamleistung, präzise, verlässlich, im besten Sinne unspektakulär – bis man ihn einmal ins Rampenlicht stellt.